Vorsorge im Bauvertrag?
In der Vergangenheit war es üblich, dass in den Bauverträgen – insbesondere in den Verträgen der öffentlichen Hand – sog. Stoffpreisgleitklauseln vereinbart wurden, insbesondere für Stahl und für Bitumen. Die Anwendung der Stoffpreisgleitklauseln führt jedoch häufig zu Streit. Zudem war die Stoffpreisgleitung an Preisindizes gekoppelt und hatte komplizierte Rechenwege zur Folge. In den vergangenen Jahren sind deswegen viele (öffentliche) Auftraggeber dazu übergegangen, grundsätzlich keine Stoffpreisgleitklauseln zu verwenden.
Das Bundesministerium des Inneren (BMI) hat aufgrund der Materialpreisexplosionen angewiesen, dass öffentliche Auftraggeber die Verwendung der Stoffpreisgleitklauseln bei neuen Vergabeverfahren prüfen müssen (Erlass des BMI vom 20.5.2021). Der Erlass gilt zwar nur für Bundesbehörden, wird aber auch durch viele Landesbehörden und durch kommunale Auftraggeber berücksichtigt.
Die Bieter sollten bei neuen Ausschreibungen für Baumaßnahmen prüfen, ob Stoffpreisgleitklauseln verwendet werden. Wenn nicht, können Sie vor Abgabe eines Angebotes bei dem Auftraggeber nachfragen und darauf hinweisen, dass aufgrund der Dauer der Baumaßnahme eine Stoffpreisgleitklausel geboten ist.
Preisanpassung ohne Preisgleitklausel?
Grundsätzlich bleiben die Preise nach Vertragsschluss verbindlich (§ 2 Abs. 1, Abs. 2 VOB/B). Gibt es keine Stoffpreisgleitklausel, dann bleibt nach Vertragsschluss nur ein Anspruch auf eine Vertragsanpassung wegen einer sog. „Störung der Geschäftsgrundlage“ (§ 313 Abs. 1 BGB). Demnach gilt:
- Haben sich Umstände, die zur Grundlage des Vertrages geworden sind, nach Vertragsschluss schwerwiegend verändert und
- hätten die Parteien den Vertrag nicht oder mit einem anderen Inhalt geschlossen, wenn sie diese Änderung vorausgesehen hätten und
- ist einem Vertragspartner ein Festhalten am Vertrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der vertraglichen oder gesetzlichen Risikoverteilung nicht zumutbar,
dann besteht ein Anspruch auf eine Anpassung des Vertrages.
Das sind extrem hohe Voraussetzungen. Die Rechtsgrundsätze der „Störung der Geschäftsgrundlage“ gehen auf die Hyperinflation im Jahr 1923 zurück. Die Preissteigerungen am Bau nehmen derzeit aber noch nicht einmal annähernd ein solches Ausmaß an. Zudem gibt es Rechtsprechung (BGH, Urt. v. 10.9.2009 – VII ZR 82/08), wonach die Kalkulation des Auftragnehmers keine Geschäftsgrundlage des Bauvertrages ist. Zudem ist die Auskömmlichkeit der Kalkulation nach der vertraglichen und gesetzlichen Risikoverteilung Sache des Auftragnehmers. Die Voraussetzungen der Störung der Geschäftsgrundlage sind daher nur in extrem seltenen Einzelfällen gegeben. Die Preissteigerungen bei Baumaterial genügen allenfalls dann für eine Anpassung des Vertrages wegen einer „Störung der Geschäftsgrundlage“, wenn allein durch die Materialpreissteigerungen die Kosten für die gesamte Baumaßnahme um mehr als 20 % steigen. Hierfür gibt es aber keine starren Grenzen. Obendrein muss der Auftragnehmer dies im Streitfall nachweisen. Praktisch führt das dazu, dass eine Preisanpassung wegen einer „Störung der Geschäftsgrundlage“ bei Materialpreissteiggerungen fast unmöglich ist, wenn sich der Auftraggeber darauf nicht freiwillig einlässt.
Mengenmehrungen und Nachträge
Beim Mengenmehrungen (§ 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B) haben Auftragnehmer die Möglichkeit, ab denjenigen Mengen, die über die Grenze von 110 % des ursprünglich vereinbarten Mengenvordersatzes in einem Einheitspreisvertrag hinausgehen, eine Preisanpassung zu beanspruchen. Für alle Mengen oberhalb der 110 %-Grenze hat der Auftragnehmer einen Anspruch auf Vergütung der tatsächlich erforderlichen Kosten zzgl. angemessener Zuschläge für Allgemeine Geschäftskosten sowie für Wagnis und Gewinn (BGH, Urt. v. 8.8.2019 – VII ZR 34/18 und Urt. v. 21.11.2019 – VII ZR 10/19). Für Nachträge, also für Bauentwurfsänderungen und für zusätzliche Leistungen, gibt es obergerichtliche Rechtsprechung mit dem gleichen Resultat (bspw. KG, Urt. v. 10.7.2018 – 21 U 30/17).
Beispiel
Der Auftragswert für einen Rohbau beträgt 1 Mio. Euro. Davon entfallen 100.000,00 Euro auf den Bewehrungsstahl (reine Materialkosten). Für den Bewehrungsstahl hat der Auftragnehmer mit 1.000,00 Euro je Tonne kalkuliert. Der Stahlpreis steigt nach Vertragsschluss auf 2.000,00 Euro je Tonne. Der Auftragnehmer muss für den Stahl nunmehr – statt 100.000,00 Euro – insgesamt 200.000,00 Euro ausgeben. Im Hinblick auf den Gesamtauftragswert führt das aber „nur“ zu einer Kostensteigerung um 100.000,00 Euro im Vergleich zu 1 Mio. Euro. Das sind 10 %. Ein Anspruch auf eine Vertragsanpassung wegen Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) besteht nicht.
Variante: Nach Vertragsschluss zeigt sich, dass die ausgeschriebene Stahlmenge (Mengenvordersatz in einem Einheitspreisvertrag) viel zu niedrig geschätzt wurde. Statt 100 Tonnen Stahl müssen 200 Tonnen Stahl eingebaut werden. Gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 2 VOB/B ist der Auftragnehmer bis zu einer Grenze von 110 % – also bis zu 110 Tonnen – an den ursprünglichen Einheitspreis der Stahlpositionen gebunden. Ab dieser Grenze kann der Auftragnehmer einen neuen Preis verlangen. Bei der Kalkulation des neuen Einheitspreises kann der Auftragnehmer aber die tatsächlichen, neuen Stahlpreise ansetzen und ist nicht an den ursprünglich kalkulierten Stahlpreis gebunden. Für 90 Tonnen kann der Auftragnehmer bei der Kalkulation des neuen Einheitspreises also 2.000,00 EUR je Tonne ansetzen. Zumindest für die Mehrmengen ab der 110 %-Grenze besteht also ein Anspruch auf Erstattung der höheren Stahlpreise.
Fazit für Bieter
- Prüfen Sie als Bieter bei aktuellen Bauausschreibungen, ob Stoffpreisgleitklauseln verwendet werden können. Fragen Sie ggf. vor Angebotsabgabe beim öffentlichen Auftraggeber nach und / oder weisen Sie darauf hin.
- Prüfen Sie, ob im Einzelfall ein Anspruch auf eine Vertragsanpassung wegen einer sog. „Störung der Geschäftsgrundlage“ vorliegt.
- Prüfen Sie, ob Sie bei Mengenmehrungen und / oder Nachträgen die tatsächlichen, höheren Materialpreise geltend machen wollen.
Volker Schmidt ist der Rechtsanwalt, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht , Fachanwalt für Verwaltungsrecht. Herr Schmidt, Jahrgang 1981, geboren in Großröhrsdorf (Sachsen), ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und für Verwaltungsrecht. In diesen Rechtsgebieten vertritt und berät er öffentliche und private Auftraggeber, Bauunternehmen sowie Architektur- und Ingenieurbüros. Herr Schmidt ist Vorsitzender des Eintragungsausschusses der Architektenkammer Sachsen. Er veröffentlicht regelmäßig Beiträge zu verschiedenen Themen des Bau- und Architektenrechts. Herr Schmidt ist Mitarbeiter der Kommentierung zum Bauvertrag, zum Nachunternehmervertrag und zum Architektenvertrag in „Vertragsrecht und AGB-Klauselwerke“ von F. Graf von Westphalen. In den vergangenen Jahren hat Herr Schmidt bundesweit über 300 Seminare zum Baurecht, zum Vergaberecht sowie zum Architekten- und Ingenieurrecht als Inhouse-Veranstaltungen und für diverse Seminaranbieter gehalten. Homepage: https://khg-dresden.com/